Herausforderndes Verhalten von Pflegekindern als
Herausforderung für die Pflegeeltern

Fachtagung Fachbereich Pflegefamilien
Referent: Oliver Hardenberg
29. Juni 2024

Text: Corina Rink
Foto: Nina Heinemann

So nannte sich das Tagesseminar des Fachbereichs Pflegefamilien, welches im Kontext zum neuen Format „Begegnung von Pflegefamilien“ für Pflegeeltern in den Räumen des St. Elisabeth Vereins in Cölbe am 29. Juni 2024 stattfand.

Referent war Oliver Hardenberg, Dipl. Psychologe und Psychotherapeut aus Münster.

Beginnend um 09.00 Uhr mit einem Steh-Café und der Möglichkeit zum gemeinsamen Ankommen und Austausch mit anderen Pflegeeltern begann pünktlich um 09.30 Uhr der offizielle Teil der Fachtagung mit einem Vortrag und anschließender Diskussion zusammen mit Oliver Hardenberg. 

Eine wichtige Anmerkung:

Der folgende Text bezieht sich in seinem Schwerpunkt auf die Frage des Seminarthemas und soll mitnichten vermitteln, dass das Leben mit Pflegekindern nur anstrengend und schwer ist.

Die Arbeit und das Leben mit Pflegekindern ist sinnstiftend und schön.

Die Pflegekinder sind wunderbar und ich/wir lernen so viel von ihnen. Die meisten von ihnen haben vor ihrer Aufnahme in ihren Pflegefamilien besondere, manchmal extreme Erfahrungen gemacht, die heute auch manchmal zu besonderen und extremen Verhaltensweisen oder Reaktionen ihrerseits führen. Diese, ich nenne sie „Symptomsprache“, zu entziffern ist unser aller Aufgabe. 

Grenzen setzen? – ja bitte!

„Wenn du die Katze tötest, musst du gehen!“ Dies war unter anderem einer der humorvollen, aber auch prägendsten Sätze aus dem Vortrag von Hardenberg. Der Satz fiel selbstverständlich in einem Kontext, den man kennen muss, um ihn richtig zu verstehen. Das Thema bezog sich auf die persönlichen Grenzen eines Jeden und auf die Frage, ob man sich selbst auch eine solche Grenze setzen kann, darf, oder vielleicht sogar muss. Der obengenannte Satz war in Hardenbergs Karriere einer, der ihm im Gedächtnis geblieben ist.
Hardenberg selbst ist Pflegevater eines mittlerweile erwachsenen Sohnes, den er als dieser 19 Jahre alt war adoptiert hat.

Darf man als Pflegefamilie die eigenen Grenzen überhaupt ansprechen und benennen oder macht es dann vielleicht gleich den Eindruck, man sei nicht geeignet und nicht professionell?

Kann man zusammen mit der Fachberatung oder dem Jugendamt überhaupt solche Dinge thematisieren, die eigene Belastung und Erschöpfung ansprechen, wenn es mal zu viel wird?

Hardenberg spricht von den Urängsten aller Pflegeeltern, nicht zu genügen oder sich als scheiternd zu outen. Er stellt in diesem Zusammenhang auch die provokante Frage, ob Pflegekindern an sich überhaupt jemals wieder „ein Haar gekrümmt werden darf“.
Er meint damit natürlich nicht, dass den Pflegekindern etwas zum Nachteil geschehen darf, sondern er will zum Ausdruck bringen, dass natürlich in jeglicher Beziehungsarbeit nicht immer alles dauerhaft nur gut und komplett fehlerfrei verlaufen kann.

So stellt er auch die Frage, ob Pflegeeltern denn überhaupt jemals Fehler machen dürfen. Mit dieser offenen, ehrlichen und authentischen Art gelang es Herrn Hardenberg schnell, den Kontakt zu den Pflegeeltern herzustellen. Die Pflegeeltern fühlten sich in ihren Gedanken, Fragen und Sorgen ernst- und angenommen.
Die Antwort lautet ja, auch Pflegeeltern dürfen Fehler machen und sollten Grenzen benennen.

Selbstverständlich müssen die Pflegekinder, so wie alle Kinder ge- und beschützt werden und es soll und darf ihnen nichts passieren – das ist unbedingt zu verhindern. Dass es mal Ärger, Unstimmigkeiten oder Streitereien gibt ist menschlich und kommt in allen Beziehungen vor.

Es gibt auch einen erheblichen Unterschied zu den vorher, im Herkunftssystem gemachten Erfahrungen der Kinder. Pflegeeltern können in der Regel die Verantwortung für ihre Fehler übernehmen. Die Pflegekinder können davon erheblich profitieren, so Hardenberg. Sie können wichtige korrigierende Erfahrungen erleben und verinnerlichen und daran quasi gesunden.

Das Verhalten der Kinder sei häufig sehr konfrontativ und manchmal auch nicht leicht auszuhalten. Die Kunst liege meist darin, Wutausbrüche und Angriffe nicht persönlich zu nehmen und nicht auf sich selbst zu beziehen. Nicht selten reagieren die Kinder auf die Pflegeeltern so, als handele es sich um Beziehungspartner mit denen sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht haben. Man könnte sagen es ist dann also eine Verwechslung zwischen dem „Hier und Jetzt“ und dem „Damals und Dort“.

Wichtige Grundlage sei, dass die Kinder mit ihren Auffälligkeiten und Besonderheiten verstanden und angenommen werden, so Hardenberg.

Er spricht vom “Konzept des guten Grundes“ anhand dessen man Verhalten und Biographie der Kinder erforscht und würdigt. (s.a. „Wir haben gute Gründe“, Schulz-Kirchner Verlag, 2023, Oliver Hardenberg, Imke Stotz)

 

Fortbildung, Austausch und eigene Reflexion

 

Man sei auch immer wieder gefragt, genau zu prüfen, wann man an „seinen eigenen Päckchen“ getroffen und getriggert wird. Sich fachlich gut aufzustellen und aktiv auf den Weg zu machen, um so manch seltsame Verhaltensweisen der Kinder besser zu verstehen, sei ein wichtiger Teil davon. Fortbildungen zu besuchen und Seminare wie dieses seien genauso wichtig, wie Selbsterfahrung und Supervision, wo es um eigene Anteile und deren Reflexion geht. Auch der Austausch mit anderen Pflegefamilien ist gewinnbringend und unterstützend und hilft so manch schwierige Phase besser auszuhalten.

Manchmal reiche Liebe und Fürsorge alleine eben nicht aus.

Hardenberg beschreibt weiter, es gäbe viele deskriptive Diagnosen, eine ADHS-Diagnose beispielsweise sei schnell gestellt, eher selten würde allerdings darüber gesprochen, wo ein ADHS seinen Ursprung findet.

Bindungsstörungen sowie Traumafolgestörungen dürften hier auch nicht vergessen werden, ebenso die meist eher vernachlässigten chronischen Beziehungs- und Interaktionsstörungen.

In der Arbeit innerhalb der Pflegefamilie ginge es häufig darum, die manchmal vielfältigen und auch vielschichtigen Probleme zunächst anzunehmen und anzuerkennen, dass es so ist. Später sei es dann wichtig, wieder Distanz zu Problemen herzustellen, aber eben nicht zum Kind. Dies sei eine immense Herausforderung und würde von den Pflegeeltern sehr viel Kraft und viel Mut erfordern.

Manchmal würden Pflegefamilien auch streckenweise in so einen Modus des „Schwarzsehens“ verfallen, Hardenberg beruhigt und findet, dies sei eigentlich nur der Hinweis darauf, dass man für jetzt gerade, also in diesem Moment, keine Lösung hat.

Dieses „Schwarzsehen“ könne man dann wieder, zum Beispiel mit der nötigen fachlichen Unterstützung, in einen Prozess umwandeln, in ein eher realistisches Sorgenmachen, dann wäre man wieder handlungsfähig und könne mit dieser neuen Haltung besser in die Beziehung zum Kind gehen.

 

“Wer mit traumatisierten Menschen arbeitet muss gut essen, viel feiern und wütend putzen“

 

Es wurde viel gesprochen über Wut und Aggression, über Enttäuschungen und Frust – es geht im Alltag immer wieder um Emotionsregulation. Die Pflegeeltern und wir als Fachkräfte befinden uns permanent im Modus der „Co-Regulation“, also als Hilfe für die Kinder und Jugendlichen, sich selbst zu regulieren in all ihrem Gefühlschaos, welches ja so nachvollziehbar und verständlich ist. Dass dies für alle aber auch kräfteraubend ist muss ernst genommen werden. Pflegeeltern geraten häufig in Stress, Selbstfürsorge sei da ein wichtiger Aspekt. 

Hardenberg zitiert: “Wer mit traumatisierten Menschen arbeitet muss gut essen, viel feiern und wütend putzen.“ (Lang, 2009)

Hardenberg erwähnt auch das Thema Neurodeeskalation (s.a. Dr. Christoph Göttl, Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut mit einer Spezialisierung auf Traumatherapie). Wichtig sei es, mit den Kindern vom Bedrohungsmodus in den Beziehungsmodus zu kommen, nur dann könne Beziehung gelingen. Eine Deeskalation bezeichnet Hardenberg als „reinen Feuerwehreinsatz“. Hier ginge es dann nicht um Erziehung, sondern um das reine Löschen. Hardenberg nennt das kluge Vorgehen einen „Fokus-klau“, er meint damit die Konzentration vom brenzligen Thema weg zu nehmen, um wieder in guten Kontakt zu kommen.

Macht auszuüben schade in jeder Hinsicht der Erziehung und noch viel mehr der Beziehung. Am Ende des spannenden Vortrages von Hardenberg gab es viel Raum und Zeit für Diskussion und Besprechung von Fallbeispielen. Die Pflegeeltern konnten einen Fragebogen ausfüllen und anhand der kurzen Informationen eine Art Fall-Supervision in großer Runde in Anspruch nehmen. Alle Pflegeeltern waren begeistert und lebhaft beteiligt.

Gut gestärkt mit erweitertem fachlichen Verständnis, sowie neuen Handlungsoptionen im Rucksack gingen die Teilnehmer*innen nach Hause. Für das leibliche Wohl sorgte das Café Salamanca, was von allen Teilnehmenden und auch vom Fachbereich besonders gelobt und wertgeschätzt wurde.

Der Fachbereich Pflegefamilien freut sich über eine höchst gelungene, erkenntnisreiche Veranstaltung mit einem kompetenten und authentischen Referenten. Oliver Hardenberg, vielen Dank!

Möchten Sie sich weiter informieren? Warum sehen Sie sich nicht einen früheren Vortrag von Herrn Hardenberg auf unserem Youtube-Kanal an?